Ein Architekt verliebt sich in ein verlassenes Nest auf Kreta und kauft
Ruine um Ruine. Heute freut sich der letzte Einheimische, dass Gäste das
Leben nach Kapsaliana zurückbringen. von Christian Schüle
Manchmal hört man auch gar nichts, dann ist die Stille total; es ist verblüffend, wie sehr der Mensch darin verloren gehen kann. Kein Motorengeräusch, kein fernes Flugzeug, nicht einmal ein Traktorgeratter. Kein Kirchenglockengeklöppel, kein Geläute vom Ziegenhals. Wie spät mag es sein? Neun oder elf oder drei, einerlei. Die Dachterrassentür steht offen, die Luft duftet nach Jasmin, und von der nahen Schlucht ziehen heiße Böen durchs Geäst der Olivenbäume. Die Sonne sticht früh herab und wandert, aber in Kapsaliana ändert sich nichts. Dieses Dorf liegt stumm am Hang und schweiget allezeit. Dem Dauergeschwätz der Welt hält es Dauerstille entgegen, wohltuenden Frieden. Doch das Dorf ist kein Dorf allein. Das Dorf ist jetzt ein Hotel. Es gibt zwei Gassen, ein Portal mit venezianisch anmutendem Rundbogen, 17 alte Steinhäuser – und eine lange Geschichte.
1763 ließ das vier Kilometer entfernt liegende Kloster Arkadi mitten im größten Olivenhain Kretas eine neue Ölpresse errichten. Immer schon lebte die Gegend um Kapsaliana vom Öl, mit ihm werden die Neugeborenen beträufelt und die Verstorbenen benetzt, und manche der über 1.200 Bäume rund um das Dorf sind 800 Jahre alt. Arbeiter siedelten sich an, um 1800 zählte das Dorf 50 Einwohner. Eineinhalb Jahrhunderte lang passierte wenig, die Haine wurden gepflegt, Oliven geerntet und gepresst.
1955 jedoch beschloss die Klosterleitung, den Standort aufzugeben und an anderer Stelle eine größere Anlage zu bauen. Die verbliebenen Arbeiter wurden alt, ihre Kinder zogen fort. Zwanzig Jahre später lebten nur noch zehn Einwohner hier, alle anderen waren gestorben oder über die schmale, schotterige Straße vom Dorf hügelaufwärts gezogen, in die nächstgrößere Siedlung Amnatos oder weiter. Als alles daniederlag und nur noch Frau Stamaktatis und ihr Neffe Manolis im letzten Haus am Ende der Gasse lebten, kam der kretische Architekt Myron Toupoyannis an Kapsaliana vorbei. Er arbeitete damals in Paris und war, wie jedes Jahr im August, auf Urlaub in der Heimat. Aus dem Auto eines Freundes erblickte er die Schönheit der Ruinen und fasste einen beinahe verwegenen Plan: dieses ruinierte Dorf als Hotel wieder aufzubauen. Und dabei jener Tradition Respekt zu erweisen, die ihn seit jeher faszinierte: der Kunst der Einfachheit.
Zwei Jahre später hatte er die ersten drei Ruinen erworben, dann das verfallene Gebäude der Ölpresse. Mit den Jahren kamen weitere Häuser dazu, der Aufkauf des Dorfs wurde zum Langzeitprojekt. Schließlich fuhr Toupoyannis hinauf zum Arkadi-Kloster, das 1866 beim Aufstand der Kreter gegen die türkischen Besatzer zu Weltruhm gelangte und ein beliebtes Ziel von Touristen ist. Bei zwei, vielleicht drei Gläsern Raki überredete er den massigen Abt Gabriel, ihm die Häuser zu verkaufen, die noch das Kloster besaß, und obendrein drei Hektar Land um das Dorf herum. Seither gehört ihm ganz Kapsaliana – bis auf ein Haus, in dem immer noch der inzwischen ergraute Manolis wohnt. Als neuer Besitzer, Investor und Architekt hätte Toupoyannis hier allerhand Gigantisches anstellen können: einen Vergnügungspark bauen oder einen Luxuskomplex, doch der neue Eigentümer ließ alles, wie es war. Er riss nichts ab, ebnete nichts ein. Er baute wieder auf und an und ein wenig um. Sein Team begradigte Wände und fügte den Ruinen hinzu, was die Zeitläufte ihnen genommen hatten – mit Stein und Holz aus der Umgebung und in der Schnörkellosigkeit der traditionellen Dorfarchitektur. Die Wohnräume der Oliven-Arbeiter von Kapsaliana wurden zu Suiten, ohne dabei ihre Einfachheit zu verlieren – das Alte ist neu auf alt gemacht.
Im Juni 2008, mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise Griechenlands, eröffnete das Kapsaliana Village Hotel mit 21 Wohneinheiten, davon 17 in den alten Steinhäusern. Alle mit Holzdecke und weißen Vorhängen, beigem Putz und moderner, dezent versteckter technischer Ausstattung. Alle mit eigenem Eingang, eigener Terrasse und einem Namen, der eine Referenz an die Poesie des zauberhaften Sternenhimmels ist: Cassiopeia etwa, Orion, Eridanus oder Pleiades. Wer den gewundenen Weg auf schmaler Landstraße durch das Hinterland der Küsten auf sich nimmt, weiß genau, was er will: den Luxus der Stille, Rückzug und weitgehende Menschenverlassenheit.
Inzwischen ist Myron Toupoyannis 67 Jahre alt, und Kapsaliana ist sein Lebenswerk geworden, dem er sich mit ungebrochener Energie widmet. Weil ihn die Hektik der französischen Hauptstadt nervte, kam er zurück auf die Insel, in sein Hotel, wo er heute in einem der alten Häuser wohnt und das Dorfleben mit seinen Gästen aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und England teilt. Das Dorf ist überschaubar: Von der dem Erzengel Michael geweihten Kapelle an seinem oberen Rand erreicht man das Portal am unteren Ende mit wenigen Schritten, der Weg ist neu gepflastert und nun auch für hohe Absätze gefahrlos. Von hier geht es noch zwei Treppenstufen hinab, dann steht linker Hand die Halle, in der die Oliven verarbeitet wurden. Die Original-Schraubenpresse, der Mahlstein und das Steinbassin sind von mystischem ölgelbem Licht museal in Szene gesetzt.
Draußen, in Gemäuernischen zwischen den Häusern, sind schlichte Tische mit cremefarbenen Stühlen arrangiert, dickbäuchige Öl-Amphoren ruhen wie Kunstwerke im öffentlichen Raum. Außerhalb des alten Dorfs ließ Toupoyannis Feigen- und Aprikosenbäume, Rosmarin-, Oregano-, Salbei- und Minzesträucher pflanzen, deren Aromen bereits von Weitem zu riechen sind. Hinter dem Garten baute der neue Dorfherr einen L-förmigen Komplex: mit Restaurant und Laube, mit Rezeption und Büro, dazu vier neue Häuser für die Gäste, die absolute Abgeschiedenheit suchen. Denn trotz aller Zivilisationsferne bietet Kapsaliana in seinem Kern jene Enge und Intimität ineinandergeschachtelter Mauern, die alte Dörfer an sich haben.
Doch selbst wenn alle Räume belegt sind, sieht man tagsüber niemanden. Sogar am Pool kann man in von Bäumen und Büschen gerahmten Nischen liegen, ohne jemanden zu Gesicht zu bekommen. Wer doch die Gegenwart eines anderen bemerkt, verfällt in ein Flüstern, als habe sich die Stille der Natur auf ihn übertragen. Nur abends im Restaurant, von dessen Laubendecke die Lampen herabhängen wie Vollmonde, treffen die Gäste etwas lauter zusammen, als wäre dort der alte Dorfplatz, auf dem einst die Arbeiter unterm Olivenbaum die Erlebnisse des Tages besprachen. Zart kommt eine Arie aus den Lautsprechern, Katzen schleichen um den Maulbeerbaum, und es werden Kalb und Schwein, Salat und Gemüse, Käse und Brot im Slow-Food-Stil serviert: das, was der kretische Boden hergibt, was in und um Kapsaliana wächst und aufwächst, was die Jahreszeit abwirft.
Dass das Dorf einmal verfallen war, ist nur noch an Details zu erkennen. Manche Mauer ist mit Unkraut überwuchert und eines der Häuser noch ein Steingerippe – das Dach fehlt, die Balken sind morsch, der Anblick der Ruine ist geradezu romantisch. Am Ende der Gasse, dort, wo sich der Pfad verjüngt und in den Lehm des angrenzenden Olivenhains hineinwindet, steht das Haus von Manolis Stamaktatis. 1948 wurde er hier geboren, nie hat er woanders gelebt. Seine Urahnen waren die Ersten, die sich um 1760 hier niederließen, heute ist Manolis der letzte Einheimische.
Der Alte und der Neue kennen sich gut, manchmal kommt Toupoyannis abends in Manolis’ Laube. Es gibt dann Erdnüsse, und Manolis schenkt Raki, den griechischen Grappa, aus einer Plastikflasche ein. Alles liegt bei ihm kreuz und quer, ungerahmte Fotos vergilben an der Wand, auf dem Tisch stehen Teller und Pfannen und unter den Tischen Flaschen und Kanister. Ja, sagt Manolis, Kapsaliana sei noch immer sein Zuhause, und nein, Myron sei kein Eroberer. Warum auch? Das Dorf sei fast verschwunden gewesen, da sei Toupoyannis aus dem Nichts gekommen und habe es gerettet. Und jetzt lebe es fort, ziehe Gäste an und sei schöner als je zuvor. Und das Haus? Sein Haus? Das letzte, das dem Village Hotel noch fehlt? 100.000 Euro, sagt Myron, würde er für Manolis’ Haus geben, mehr nicht. Manolis schweigt dazu. Er wartet und spekuliert, dass der Hotelbesitzer einmal mehr bieten wird.
Er wird umsonst warten, sagt Myron später auf dem Weg zurück ins Restaurant. Manolis’ Haus biete keine gute Aussicht, die Zimmer seien schlecht geschnitten, deshalb werde er Manolis kein besseres Angebot machen. Lieber baut er die große Ruine unterhalb der Kapelle um, der Blick in Richtung Meer: grandios. Ein paar Feigenbäume müsste er dafür abholzen, und das könnte das Letzte sein, was Myron in seinem Dorf noch tut.
Nach kurzer Zeit in Kapsaliana haben sich die Sinne des Großstädters enorm geschärft, in der totalen Stille vernimmt er plötzlich Laute. Er hört das Tirili ferner Schwalben, das Gezirp der Zikaden in der nahen Schlucht und von weit her das Plätschern einer Quelle. Er steht fassungslos vor der Pracht magentafarbener Bougainvilleen und versinkt danach, statt eine Wanderung zu tun, im Liegestuhl auf der Dachterrasse, blickgeschützt von Paravent und Mauerwerk. Die Stille, deren Nuancen er nun wahrnimmt, ist göttlich. Er vergisst Zeit und Welt, und irgendwann, um drei, um fünf, um sieben, verlässt er das Dorf in einem Taxi. Eine Stunde später kehrt die vergessene Welt zurück. Der Trubel am Flughafen von Heraklion ist tatsächlich höllisch.
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Manchmal hört man auch gar nichts, dann ist die Stille total; es ist verblüffend, wie sehr der Mensch darin verloren gehen kann. Kein Motorengeräusch, kein fernes Flugzeug, nicht einmal ein Traktorgeratter. Kein Kirchenglockengeklöppel, kein Geläute vom Ziegenhals. Wie spät mag es sein? Neun oder elf oder drei, einerlei. Die Dachterrassentür steht offen, die Luft duftet nach Jasmin, und von der nahen Schlucht ziehen heiße Böen durchs Geäst der Olivenbäume. Die Sonne sticht früh herab und wandert, aber in Kapsaliana ändert sich nichts. Dieses Dorf liegt stumm am Hang und schweiget allezeit. Dem Dauergeschwätz der Welt hält es Dauerstille entgegen, wohltuenden Frieden. Doch das Dorf ist kein Dorf allein. Das Dorf ist jetzt ein Hotel. Es gibt zwei Gassen, ein Portal mit venezianisch anmutendem Rundbogen, 17 alte Steinhäuser – und eine lange Geschichte.
1763 ließ das vier Kilometer entfernt liegende Kloster Arkadi mitten im größten Olivenhain Kretas eine neue Ölpresse errichten. Immer schon lebte die Gegend um Kapsaliana vom Öl, mit ihm werden die Neugeborenen beträufelt und die Verstorbenen benetzt, und manche der über 1.200 Bäume rund um das Dorf sind 800 Jahre alt. Arbeiter siedelten sich an, um 1800 zählte das Dorf 50 Einwohner. Eineinhalb Jahrhunderte lang passierte wenig, die Haine wurden gepflegt, Oliven geerntet und gepresst.
1955 jedoch beschloss die Klosterleitung, den Standort aufzugeben und an anderer Stelle eine größere Anlage zu bauen. Die verbliebenen Arbeiter wurden alt, ihre Kinder zogen fort. Zwanzig Jahre später lebten nur noch zehn Einwohner hier, alle anderen waren gestorben oder über die schmale, schotterige Straße vom Dorf hügelaufwärts gezogen, in die nächstgrößere Siedlung Amnatos oder weiter. Als alles daniederlag und nur noch Frau Stamaktatis und ihr Neffe Manolis im letzten Haus am Ende der Gasse lebten, kam der kretische Architekt Myron Toupoyannis an Kapsaliana vorbei. Er arbeitete damals in Paris und war, wie jedes Jahr im August, auf Urlaub in der Heimat. Aus dem Auto eines Freundes erblickte er die Schönheit der Ruinen und fasste einen beinahe verwegenen Plan: dieses ruinierte Dorf als Hotel wieder aufzubauen. Und dabei jener Tradition Respekt zu erweisen, die ihn seit jeher faszinierte: der Kunst der Einfachheit.
Zwei Jahre später hatte er die ersten drei Ruinen erworben, dann das verfallene Gebäude der Ölpresse. Mit den Jahren kamen weitere Häuser dazu, der Aufkauf des Dorfs wurde zum Langzeitprojekt. Schließlich fuhr Toupoyannis hinauf zum Arkadi-Kloster, das 1866 beim Aufstand der Kreter gegen die türkischen Besatzer zu Weltruhm gelangte und ein beliebtes Ziel von Touristen ist. Bei zwei, vielleicht drei Gläsern Raki überredete er den massigen Abt Gabriel, ihm die Häuser zu verkaufen, die noch das Kloster besaß, und obendrein drei Hektar Land um das Dorf herum. Seither gehört ihm ganz Kapsaliana – bis auf ein Haus, in dem immer noch der inzwischen ergraute Manolis wohnt. Als neuer Besitzer, Investor und Architekt hätte Toupoyannis hier allerhand Gigantisches anstellen können: einen Vergnügungspark bauen oder einen Luxuskomplex, doch der neue Eigentümer ließ alles, wie es war. Er riss nichts ab, ebnete nichts ein. Er baute wieder auf und an und ein wenig um. Sein Team begradigte Wände und fügte den Ruinen hinzu, was die Zeitläufte ihnen genommen hatten – mit Stein und Holz aus der Umgebung und in der Schnörkellosigkeit der traditionellen Dorfarchitektur. Die Wohnräume der Oliven-Arbeiter von Kapsaliana wurden zu Suiten, ohne dabei ihre Einfachheit zu verlieren – das Alte ist neu auf alt gemacht.
Im Juni 2008, mitten in der tiefsten Wirtschaftskrise Griechenlands, eröffnete das Kapsaliana Village Hotel mit 21 Wohneinheiten, davon 17 in den alten Steinhäusern. Alle mit Holzdecke und weißen Vorhängen, beigem Putz und moderner, dezent versteckter technischer Ausstattung. Alle mit eigenem Eingang, eigener Terrasse und einem Namen, der eine Referenz an die Poesie des zauberhaften Sternenhimmels ist: Cassiopeia etwa, Orion, Eridanus oder Pleiades. Wer den gewundenen Weg auf schmaler Landstraße durch das Hinterland der Küsten auf sich nimmt, weiß genau, was er will: den Luxus der Stille, Rückzug und weitgehende Menschenverlassenheit.
Inzwischen ist Myron Toupoyannis 67 Jahre alt, und Kapsaliana ist sein Lebenswerk geworden, dem er sich mit ungebrochener Energie widmet. Weil ihn die Hektik der französischen Hauptstadt nervte, kam er zurück auf die Insel, in sein Hotel, wo er heute in einem der alten Häuser wohnt und das Dorfleben mit seinen Gästen aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und England teilt. Das Dorf ist überschaubar: Von der dem Erzengel Michael geweihten Kapelle an seinem oberen Rand erreicht man das Portal am unteren Ende mit wenigen Schritten, der Weg ist neu gepflastert und nun auch für hohe Absätze gefahrlos. Von hier geht es noch zwei Treppenstufen hinab, dann steht linker Hand die Halle, in der die Oliven verarbeitet wurden. Die Original-Schraubenpresse, der Mahlstein und das Steinbassin sind von mystischem ölgelbem Licht museal in Szene gesetzt.
Draußen, in Gemäuernischen zwischen den Häusern, sind schlichte Tische mit cremefarbenen Stühlen arrangiert, dickbäuchige Öl-Amphoren ruhen wie Kunstwerke im öffentlichen Raum. Außerhalb des alten Dorfs ließ Toupoyannis Feigen- und Aprikosenbäume, Rosmarin-, Oregano-, Salbei- und Minzesträucher pflanzen, deren Aromen bereits von Weitem zu riechen sind. Hinter dem Garten baute der neue Dorfherr einen L-förmigen Komplex: mit Restaurant und Laube, mit Rezeption und Büro, dazu vier neue Häuser für die Gäste, die absolute Abgeschiedenheit suchen. Denn trotz aller Zivilisationsferne bietet Kapsaliana in seinem Kern jene Enge und Intimität ineinandergeschachtelter Mauern, die alte Dörfer an sich haben.
Doch selbst wenn alle Räume belegt sind, sieht man tagsüber niemanden. Sogar am Pool kann man in von Bäumen und Büschen gerahmten Nischen liegen, ohne jemanden zu Gesicht zu bekommen. Wer doch die Gegenwart eines anderen bemerkt, verfällt in ein Flüstern, als habe sich die Stille der Natur auf ihn übertragen. Nur abends im Restaurant, von dessen Laubendecke die Lampen herabhängen wie Vollmonde, treffen die Gäste etwas lauter zusammen, als wäre dort der alte Dorfplatz, auf dem einst die Arbeiter unterm Olivenbaum die Erlebnisse des Tages besprachen. Zart kommt eine Arie aus den Lautsprechern, Katzen schleichen um den Maulbeerbaum, und es werden Kalb und Schwein, Salat und Gemüse, Käse und Brot im Slow-Food-Stil serviert: das, was der kretische Boden hergibt, was in und um Kapsaliana wächst und aufwächst, was die Jahreszeit abwirft.
Dass das Dorf einmal verfallen war, ist nur noch an Details zu erkennen. Manche Mauer ist mit Unkraut überwuchert und eines der Häuser noch ein Steingerippe – das Dach fehlt, die Balken sind morsch, der Anblick der Ruine ist geradezu romantisch. Am Ende der Gasse, dort, wo sich der Pfad verjüngt und in den Lehm des angrenzenden Olivenhains hineinwindet, steht das Haus von Manolis Stamaktatis. 1948 wurde er hier geboren, nie hat er woanders gelebt. Seine Urahnen waren die Ersten, die sich um 1760 hier niederließen, heute ist Manolis der letzte Einheimische.
Der Alte und der Neue kennen sich gut, manchmal kommt Toupoyannis abends in Manolis’ Laube. Es gibt dann Erdnüsse, und Manolis schenkt Raki, den griechischen Grappa, aus einer Plastikflasche ein. Alles liegt bei ihm kreuz und quer, ungerahmte Fotos vergilben an der Wand, auf dem Tisch stehen Teller und Pfannen und unter den Tischen Flaschen und Kanister. Ja, sagt Manolis, Kapsaliana sei noch immer sein Zuhause, und nein, Myron sei kein Eroberer. Warum auch? Das Dorf sei fast verschwunden gewesen, da sei Toupoyannis aus dem Nichts gekommen und habe es gerettet. Und jetzt lebe es fort, ziehe Gäste an und sei schöner als je zuvor. Und das Haus? Sein Haus? Das letzte, das dem Village Hotel noch fehlt? 100.000 Euro, sagt Myron, würde er für Manolis’ Haus geben, mehr nicht. Manolis schweigt dazu. Er wartet und spekuliert, dass der Hotelbesitzer einmal mehr bieten wird.
Er wird umsonst warten, sagt Myron später auf dem Weg zurück ins Restaurant. Manolis’ Haus biete keine gute Aussicht, die Zimmer seien schlecht geschnitten, deshalb werde er Manolis kein besseres Angebot machen. Lieber baut er die große Ruine unterhalb der Kapelle um, der Blick in Richtung Meer: grandios. Ein paar Feigenbäume müsste er dafür abholzen, und das könnte das Letzte sein, was Myron in seinem Dorf noch tut.
Nach kurzer Zeit in Kapsaliana haben sich die Sinne des Großstädters enorm geschärft, in der totalen Stille vernimmt er plötzlich Laute. Er hört das Tirili ferner Schwalben, das Gezirp der Zikaden in der nahen Schlucht und von weit her das Plätschern einer Quelle. Er steht fassungslos vor der Pracht magentafarbener Bougainvilleen und versinkt danach, statt eine Wanderung zu tun, im Liegestuhl auf der Dachterrasse, blickgeschützt von Paravent und Mauerwerk. Die Stille, deren Nuancen er nun wahrnimmt, ist göttlich. Er vergisst Zeit und Welt, und irgendwann, um drei, um fünf, um sieben, verlässt er das Dorf in einem Taxi. Eine Stunde später kehrt die vergessene Welt zurück. Der Trubel am Flughafen von Heraklion ist tatsächlich höllisch.
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